Mit großer Besorgnis und Unverständnis wenden wir uns gegen die aktuellen Äußerungen von Wilhelm Neusel. Dieser hat als Vertreter des Arbeitskreises Tübinger Verbindungen (AKTV), dem Dachverband der Tübinger Korporierten, im Rahmen einer Pressekonferenz geäußert, dass der Beschluss der Rektorenkonferenz aus dem Jahr 1949 (auf einer Sitzung der Westdeutschen Rektorenkonferenz in Tübingen) gegen das Farbentragen „im Duktus von Joseph Goebbels“ vorgetragen worden sei.
Im Rahmen dieser Pressekonferenz wurde gleichzeitig mitgeteilt, dass die Universität Tübingen beim „Bürgerfrühschoppen der Tübinger Verbindungen“ am 17.5. durch ein Grußwort der Prorektorin für Studium und Lehre vertreten sein wird. Bereits am vergangen Samstag fand im Festsaal der Universität eine Veranstaltung des AKTV statt, auf der Frau Professor Dr. Gropper ebenfalls die Universität vertreten musste, es in ihrem Grußwort jedoch unterließ Stellung zu diesen diffamierenden Äußerungen zu nehmen.
Bis zum vergangenen Dienstag gab es keine öffentliche Stellungnahme des Rektors zu den absolut unangebrachten Äußerungen von Herrn Neusel. Dies hielten wir für mehr als bedauerlich. Deshalb haben wir uns an das Rektorat gewandt, mit der sehr eindringlich vorgetragenen Bitte, darauf hinzuwirken, diese Vorfälle zu thematisieren. Für uns steht fest, dass sich der Rektor von den Äußerungen des Herrn Neusel distanzieren muss, sich schützend vor seinen Vorgänger sowie die versammelten Hochschulrektoren zu stellen hat und dem AKTV zukünftig keine Veranstaltungen in Räumen der Universität mehr zugebilligt werden sowie das Rektorat nicht mehr bei dessen Veranstaltungen auftreten sollte.
Es ist der Universität Tübingen absolut unwürdig, wenn Äußerungen wie die von Herrn Neusel geduldet werden und nicht zeitnah und sehr konsequent reagiert wird. Denn hier wird nicht nur unsere Universität angegriffen, hier werden auch die ehemaligen Rektoren wie den versammelten Hochschulrektoren und die Hochschulrektorenkonferenz insgesamt herabgewürdigt und die Aufbauleistung wie die historischen Wahrheiten herabgewürdigt und verfälschend dargestellt.
Der damalige Tübinger Rektor und Professor der Rechtswissenschaften Walter Erbe (übrigens Mitglied der Turnerschaft Hohenstaufia, also ein Verbindungsmitglied) war selbst Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Es ist eine Beleidigung, diesen Mann, der sich um den Aufbau der deutschen Universitäten und insbesondere die schwierigen Jahre des Wiederaufbaus einer demokratischen Universitätsstruktur nach dem 2.WK sehr verdient gemacht hat, in die Nähe von Goebbels zu rücken. Ihm und seiner Familie hätte der Rektor umgehend beistehen und sich auch vor die Institution der Universität Tübingen schützend stellen müssen. Denn hier werden nicht nur Rektoren, die teilweise selbst die Gräueltaten des Nationalsozialismus überlebten diskreditiert, nein hier wird auch eine Institution als solche diffamiert. Diesen Angriff auf die Universität und ihre ehemaligen Würdenträger, hätte der Rektor umgehend in aller gebotenen Form und Schärfe begegnen müssen, doch bisher wurde seitens des Rektorats noch nicht einmal die Problematik, geschweige denn das Bild, das diese Äußerung auf das Selbstverständnis des derzeitigen Rektorats und die Geschichte unserer Universität wirft, thematisiert. Im Gegenteil gleichzeitig wird dem AKTV mit dem Festsaal am vergangen Wochenende noch eine Plattform für eigene Veranstaltungen geboten und das Rektorat erklärt sich an verschiedenen Stellen bereit, für diesen Arbeitskreis Grußworte und Ähnliches zu halten.
Dass es hier offensichtlich an einem sensiblen Umgang und einer kritischen Bewertung der Äußerungen fehlt, zwingt uns als Studierende einzuschreiten, denn für uns können und dürfen diese Äußerungen nicht unkommentiert im Raum stehen bleiben.
Dass das Rektorat am Mittwoch nun endlich reagierte, freut uns und dass sich auch die Landesrektorenkonferenz dieser Aufforderung anschloss, zeigt für uns, hier musste gehandelt werden und hier bedurfte es einmal mehr dem Hinweis der Anständigen, damit auch die Universität keinen Schaden nimmt.
Das Rektorat der Universität Tübingen hat sich in seiner heutigen wöchentlichen Dienstbesprechung mit den Äußerungen von Herrn Wilhelm G. Neusel, dem Vorsitzenden des Arbeitskreises Tübinger Verbindungen, beschäftigt, mit denen er im Schwäbischen Tagblatt vom 22. April 2009 zitiert wird. Den Vergleich der Äußerungen dreier deutscher Rektoren aus dem Jahre 1949 mit dem Sprachduktus von Joseph Goebbels hält das Rektorat für völlig unangemessen und ehrverletzend. Der Vergleich beleidigt und diffamiert mit seinen Implikationen die Personen und die durch sie vertretenen Institutionen, d.h. die Westdeutsche Rektorenkonferenz sowie die Universität Tübingen. Jeglicher Vergleich von Persönlichkeiten wie Ludwig Raiser, Gerd Tellenbach oder Walter Erbe, dem damaligen Tübinger Rektor, der selbst unter dem Terror des Nationalsozialismus gelitten hat, mit Joseph Goebels ist untragbar und zeugt von einem nicht akzeptablen Geschichtsverständnis. Wie absurd der Vergleich ist, wird auch durch die Dokumentation der Originalzitate von 1949 im Schwäbischen Tagblatt deutlich.
Das Rektorat erwartet eine öffentliche Klarstellung und Entschuldigung von Herrn Neusel. Es betrachtet die in Gang gebrachte Normalisierung des Verhältnisses von Universität und Verbindungen als gefährdet.
Die Reaktion der Landesrektorenkonferenz
Die Landesrektorenkonferenz Baden-Württemberg nimmt mit Befremden eine Pressemeldung zur Kenntnis, nach der ein Mitglied einer Tübinger Studentenverbindung einen Beschluss der Westdeutschen Rektorenkonferenz aus dem Jahr 1949 mit Joseph Goebbels in Verbindung gebracht hat. Die Anstrengungen der Nachkriegszeit zum Neuaufbau eines Hochschulsystems im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik können und dürfen nicht mit dem nationalsozialistischen Unrechtssystem gleichgesetzt werden. Die baden-württembergischen Universitäten als Mitglieder der Hochschulrektorenkonferenz – der Nachfolgeorganisation der früheren Westdeutschen Rektorenkonferenz – sprechen sich mit allem Nachdruck gegen diesen Vergleich aus. Wir verweisen hier auch auf die ausführliche Stellungnahme des Rektorats der Universität Tübingen vom 29.04.2009.
Damit verbinden die baden-württembergischen Universitäten keine Stellungnahme bezüglich Studentenverbindungen im allgemeinen, die sie wie andere Gruppierungen von Studierenden als Bestandteil des universitären Lebens respektieren, soweit sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen.