Der Normallfall läuft so ab: die Fakultät bestellt eine Berufungskommission, diese sichtet die Bewerberlage, lädt geeignete Kandidaten zum Vorsingen
ein und stellt aus den Qualifiziertesten eine Dreierliste mit Berufungsvorschlägen zusammen. Der Senat stimmt der Liste zu, der Rektor spricht dem Erstplatzierten einen Ruf aus und dann beginnen die Verhandlungen bis der Lehrstuhlnachfolger feststeht. Doch was in der Theorie viel Bürokratie mit wenig Aufhebens ist, kann im Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität schon mal zu einer neogriechischen Tragödie werden. So geschehen bei der Nachfolge des Walter-Jens-Lehrstuhls für Allgemeine Rhetorik.
Bereits Jens-Nachfolger Gert Ueding wechselte nicht freiwillig in den Ruhestand. Er zog seinen Antrag auf Dienstzeitverlängerung zurück, da ich kein Vertrauen in die Objektivität des Verfahrens habe und eine faire Behandlung auch weiterhin nicht erwarten kann
, wie Ueding in einem öffentlich ausgehängten Abschiedsbrief erklärte. Die beleidigte Reaktion eines schlechten Verlieres?
Zur Neubesetzung des Lehrstuhls wurde an der Neuphilologischen Fakultät eine Berufungskommission gebildet, die mit Dietmar Till auf Platz eins und Temilo van Zantwijk auf Platz drei auch eine Berufungsliste aufgestellt hat. Ganz wie es das Verfahren vorsieht. Doch was auch hier noch unspektakulär klingen mag, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als wahres Possenstück.
Denn in der Berufungskommission waren scheinbar nicht alle unvoreingenommen darauf bedacht, den Besten oder die Beste aus dem Bewerberfeld zu finden. Neben Mitarbeitern, Externen und Studierenden saßen auch zwei Professoren in der Kommission, die zumindest einen Bewerber besser kannten, als es unter fachlichen Kollegen der Fall ist. Die Neuphilologen Professor Georg Braungart und Professor Joachim Knape waren nicht nur stimmberechtigte Mitglieder: Der erstplatzierte Dietmar Till war Schüler bei Professor Knape und von 2002–2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Assistent bei Professor Braungart. Aus dieser Zeit sind auch gemeinsame wissenschaftliche Veröffentlichungen der drei Herren hervorgegangen. Nun mag es sein, das eine Bekanntschaft grundsätzlich nicht verwerflich ist, doch entsteht hier neben dem Schein einer so genannten Hausberufung auch der Anschein, dass sich die beiden Herren an einigen Stellen zu sehr für den eigenen Schützling ins Zeug gelegt haben. So jedenfalls deutet es ein anonymer Brief aus der Berufungskommission an, der sowohl dem Wissenschaftsministerium als auch der Presse vorliegt. Selbst der Rektor der Universität Tübingen und Neuphilologe Bernd Engler gibt eine gewisse Befangenheit der Berufungskommission mittlerweile zu.
Der Lehrstuhl, der einst für Walter Jens geschaffen wurde, galt als der erste seiner Art in ganz Deutschland, und auch heute ist die Universität Tübingen mit ihrem Seminar für Allgemeine Rhetorik einzigartig. Die 2500 Jahre alte Tradition der Rhetorik als Wissenschaft, die im 20. Jahrhundert versunken war, sollte hier wieder zu neuem akademischen Leben erweckt werden. Nachdem Jens den Lehrstuhl von 1963 bis 1988 innehatte, folgt ihm Gert Ueding, der bis 2008 lehrte. Beide prägten das Profil des Tübinger Seminars und machten sich als Professoren deutschlandweit einen Namen, und auch der derzeit einzige Rhetorikprofessor Deutschlands leistete wichtige Beiträge.
Doch während Rhetorik für Ueding eine allgemeine Theorie der Produktion von sprachlichen, genauso wie bildlichen oder anderen Werken darstellt, ist sie für Knape die erfolgsorientierte, strategische Kommunikation. Und das merkt man. Ob die hier aufgeführte Tragödie nun aber als solche zum Gegenstand des Faches gehört oder nicht, ist allerdings vielleicht weniger wichtig als die Frage, ob es sich nicht vielmehr um eine Posse handelt.