Rätetä # 57 – Zur Geschichte der Verfassten Studierendenschaft

So überraschend wie die neue Landesregierung an die Macht gekommen ist, so dürften die meisten Studierenden auch von den beiden sie direkt betreffenden Gesetzesänderungen überrascht worden sein. Erstens muss man ab dem kommenden Semester für das Grundrecht auf (universitäre) Bildung keine 500€ mehr bezahlen – und das, obwohl die großen Protestaktionen dagegen schon ein wenig zurückliegen – und zweitens kommt die Wiedereinführung der Verfassten Studierendenschaft. Die Protestakte gegen deren Abschaffung greifen noch einmal weiter in die Vergangenheit zurück und sind durch ihre institutionalisierte Form zum Teil gar nicht mehr als solche erkennbar gewesen.


Im Jahr 1977 wurde der Zuständigkeitsbereich des AStA im Landeshochschulgesetz auf die „Förderung der sozialen, geistigen, musischen und sportlichen Belange der Studierenden“ beschränkt. Damit einher ging der Wegfall der 3 zentralen Forderungen der Studierenden:

  • Die Satzungsautonomie: Sie bedeutet die Freiheit darüber zu entscheiden, wie man sich als Studierendenvertretung organisieren möchte: Ob man z.B. seinen AStA Vertreter_innen für ein Jahr das Vertrauen aussprechen möchte, dass sie die Interessen der Studierenden adäquat vertreten, oder ob es ein Modell mit Fachschaftsrückbindung geben soll, wie es zur Zeit in der FSVV praktiziert wird, bei dem man sich wöchentlich in die Entscheidungsfindung einmischen kann.
  • Die Finanzautonomie: Sie ist zum einen die Freiheit, als AStA Gebühren von den Studierenden zu erheben, um die eigene Arbeit zu finanzieren (meist 5-13€ pro Semester), und zum anderen die Freiheit, selber über die Verteilung dieser Mittel zu bestimmen, ohne dass der Rektor das letzte Wort darüber hat.
  • Das allgemein-politische Mandat: Momentan darf der AStA sich nicht politisch äußern. Er ist zum Schweigen verpflichtet, wenn es um die Studierenden direkt betreffende Themen wie Studiengebühren geht. Er darf sich aber auch nicht z.B. gegen einen Naziaufmarsch in der Stadt positionieren.

Was die Rückgewinnung dieser drei Freiheiten in Tübingen bedeuten wird, ist schwierig zu sagen, gehören ihr Fehlen und die institutionalisierten Protestformen, wie die FSVV, doch zur alltäglichen Normalität. Vielleicht hilft ein Blick in die Vergangenheit, um zu verstehen, was die Verfasste Studierendenschaft ausmacht, und um eine Idee für die konkrete Utopie der Zukunft zu gewinnen.

Auch wenn es 1821-1825 wohl schon den ersten AStA der „deutschen“ Geschichte in Tübingen gegeben haben soll, startet diese Betrachtung in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Filme wie der „Der Vorleser“ vermitteln meiner Ansicht nach eindrucksvoll, was Nachkriegszeit an Universitäten in der Bundesrepublik bedeutete. Wo personelle Konstanten seit dem NS-Regime und Debatten um Wiederbewaffnung die Diskussion prägten, war ein „Ende der Geschichte“ weder abseh- noch vorstellbar. Aus diesem Kontext heraus hat der Wunsch nach einer unabhängigen Studierendenvertretung, u.a. um Meinungsbildungsprozessen einen geschützten Raum zu bieten, eine eigene Qualität.

1970 gab sich die Tübinger Studierendenschaft zum ersten Mal eine eigene Verfassung, die die Vollversammlung aller Studierenden als höchste Instanz ihrer Arbeit festlegte und sich mit Hilfe der Rückbindung an die Fachschaften auf einer breiten Basis verankern wollte. Diese gezogenen Lehren aus der „deutschen“ Geschichte wurden von regierender Seite meistens nicht als friedenssichernde Maßnahmen verstanden. Wo der „Kalte Krieg“ in den Köpfen tobte, wurde die Einbindung einer breiten Basis schnell mit dem „Klassenfeind“ verbunden, und so wurden mit dem ’73er Landeshochschulgesetz die studentischen Vollversammlungen und die Fachschaftsrückbindung verboten. Um dieses Verbot zu umgehen, wurde die FachschaftsräteVollversammlung geschaffen.

Die Studienvertretung war in den folgenden Jahren nicht gerade handzahm. Als insbesondere die Naturwissenschaftler_innen für verbrauchte Chemikalien und anderes „Ersatzgelder“ zahlen sollten, konnte ein groß angelegter Rückmeldeboykott organisiert werden. 1976 kandidierte dann Hans Filbinger erneut als Ministerpräsident des Landes unter dem Motto „Freiheit statt Sozialismus“ und erlangte mit 56,7 Prozent den bis heute größten CDU-Wahlerfolg in der Bundesrepublik. Bestärkt durch dieses Wahlergebnis konnte die Landesregierung 1977 die oben geschilderte Beschränkung der ASten durchsetzten, war für die Mehrheitsgesellschaft doch klar, dass von den Universitäten gleichermaßen sexuelle Verwahrlosung wie RAF-Terrorismus ausginge. Ein Jahr später musste Filbinger von seinem Amt zurücktreten, da seine Rolle als „Hitlers Marinerichter“ bekannt wurde. Filbinger ging, doch der AStA blieb das, was er (nicht) ist, bis heute.

Mit dem Gesetz von ’77 war die FSRVV nicht mehr nur eine Plattform zur Koordination, sondern die Tübinger Variante einer unabhängigen Studierendenvertretung. Indem die Liste der Fachschaften bzw. Liste zum Aufbau einer Unabhängigen Studierendenvertretung (LAUS) die Mehrheit im AStA gewann, konnte die Arbeit dort auf Formalia beschränkt werden. Inhaltliches wurde in die FSRVV verlagert, die sich weiterhin selber eine Satzung geben kann, sich politisch äußern darf und über ihre (geringen) Mittel frei verfügt.

Diese Struktur besteht bis heute. Die FSRVV tagt weiter jeden Montag um 18:00. Sie hat offiziell das „R“ in ihrer Mitte verloren, nicht wegen eines Naziministerpräsidenten, sondern weil die Studierenden aus dem Namen des „Räte“-Systems etwas Altbackenes herausgehört haben – auch wenn sie dieses System weiterhin praktizieren. In Folge des Bildungsstreiks ist die FSVV zur Erweiterten FSVV gewachsen, in der nicht mehr nur die Fachschaften unter sich sind, sondern auch die Hochschulpolitischen Gruppen mit 2 Delegierten gleichberechtigt vertreten sind. Diese Erweiterte FSVV hat der Arbeitskreis zur Zukunft der Tübinger Studierendenvertretung versucht, mit einer ausgereiften Satzung zu versehen, um Doppelstrukturen mit dem rudimentären AStA zu vermeiden. Diese Arbeit der letzten Jahre muss neu gedacht werden, da man nun nicht mehr die beschränkenden gesetzlichen Vorgaben unterwandern, sondern selber offizielle Vorgaben mit ausarbeiten muss.

Wie die konkrete Utopie für die Zukunft der Verfassten Studierendenschaft aussieht, muss jede_r selber ersinnen – mit Blick auf Vergangenheit und Gegenwart. Vielleicht wird es in Zukunft keine studentische Vollversammlung mit 2000 Leuten in der Mensa geben, sondern riesige Open Space Veranstaltungen oder doch lieber eine Asamblea um die Sprache der Occupy Bewegung aufzunehmen?

aus dem Rätetä #57, Januar 2012