Offener Brief: Antwort auf Herrn Palmers Interview im Spiegel und im Schwäbischen Tagblatt

Die Fachschaften-Vollversammlung hat einen offenen Brief an OB Palmer geschrieben. Hintergrund sind Herrn Palmers Äußerungen im Spiegel und im Tagblatt.


Sehr geehrter Herr Palmer,

mit großem Unverständnis haben wir Ihre Interviews im Spiegel sowie im Schwäbischen Tagblatt zur Kenntnis genommen.

Diskurs

In Ihrem Interview benutzten Sie Bilder und Formulierungen, die Sie zwar offensichtlich nicht als rassistisch empfinden, die jedoch zu einem xenophoben und rassistischen Diskurs beitragen können oder, im schlechtesten Fall, Teil davon sind. So zitieren Sie etwa den „grünen Professor“ mit seiner Angst um seine beiden blonden Töchter wegen „60 Arabern in 200m Entfernung.“ Sie bedienen damit in zweierlei Hinsicht einen rassistischen Diskurs. Einerseits rufen Sie mit Betonung der „blonden“ Mädchen das völkische Bild eines ethnischen Deutschen hervor. Andererseits tragen sie durch Ihre Darstellung zur Schaffung des Stereotyps eines sexuell ungezügelten und unberechenbaren „Arabers“ bei und verankern dieses Bild im öffentlichen Diskurs. Lassen Sie uns die Gegenfrage stellen: Wie viele alleinstehende deutsche Männer wohnen im Umkreis von 200m um jenen Professor und warum scheint das kein Problem zu sein?

Zuzug und Wohnraum

In Ihrem Interview berichten Sie weiterhin, dass Tübingen in den letzten Jahren 1300 Geflüchtete aufgenommen hat und diese Zahl in zwei Jahren auf 3500 steigen wird. Sie sehen darin ein Problem für die Integration. Tübingen als Universitätsstadt lebt davon, dass jedes Semester tausende (zuletzt waren es gut 5400) junge Menschen hier ihr Studium aufnehmen. Die Integration dieser sehr viel größeren Zahl von Hinzuziehenden scheint kein großes Problem darzustellen. Sollte man nicht einfach mit den Tatsachen des Zuzugs möglichst gut umgehen statt mit pessimistischen Aussagen nicht nur die Lage sondern auch die Menschen zu problematisieren? Ein Gegeneinander ausspielen von verschiedenen Bewohner*innen der Stadt darf nicht – vor allem nicht durch den Oberbürgermeister dieser Stadt – stattfinden.

Sensibilität

Es geht nicht darum, ob diese Aussage von einem ‚eigentlich‘ gebildeten Professor stammt, sondern darum, was für Auswirkungen es hat, wenn sie wiederholt wird. Welche Rolle spielt es, dass die Töchter blond sind? Warum sprechen Sie nicht einfach von Menschen statt von „Arabern“? Sie zeigen mit diesen Aussagen wie gering Ihre Sensibilität gegenüber der Latenz von Vorurteilen, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist. Reichtum, Titel und Parteimitgliedschaft bedeuten nicht, dass Menschen nicht auf die Mechanismen der Überheblichkeit, Stigmatisierung und Abwertung hereinfallen können.

Als problematisch empfinden wir auch, dass Sie in Ihrem Interview ein aus unserer Sicht unzutreffendes Bild der Situation in Tübingen zeichnen. Wir sehen weder einen Schwund in der Akzeptanz, noch können wir von einer ablehnenden Haltung bei Veranstaltungen zur Bürgerinformation berichten. Sie verteidigen dennoch eine solche Haltung als legitim und tragen damit wiederum zu einer Verschärfung des Diskurses bei.

Grenzen als Norm? – Von „guten“ und „schlechten“ Geflüchteten

Darüber hinaus greifen sie das Bild der Festung Europa auf. Sie fordern die Schließung der Außengrenzen Europas unter Verweis darauf, wie friedlich dies in Ceuta und Melilla funktioniere. Das dort immer wieder Menschen an dem mit Rasierklingen besetzten Draht verbluten verschweigen Sie ebenso wie die Abkommen mit Marokko, keine Geflüchteten zur Grenze zu lassen. Die Situation von Geflüchteten an dieser Grenzen wird von Ihnen damit erheblich weichgezeichnet. Und Sie sind sich dessen bewusst, wie sonst kämen Sie zu der Aussage, dass „wir die hässlichen Szenen vor dem Burggraben Europas aushalten müssen“?

Ihre Darstellung der Situation an den Grenzen trägt dazu bei, einen großen Teil der Flüchtlinge als „ungerechtfertigt“ zu diskreditieren und verankert damit im Diskurs eine Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen.

Eine Unterscheidung, die Sie auch in anderen Aussagen stützen, etwa in der Forderung mehr Länder zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Damit wird Geflüchteten von dort ein legaler Status hier unmöglich gemacht, denn ein ergebnisoffenes Asylverfahren findet dann nicht mehr statt. Wo dabei Ihr Ansatz von Verantwortungsethik bleibt ist uns unklar. Deshalb erscheint es uns nur konsequent, dass Sie auf die Frage des Schwäbischen Tagblattes hin, wie man denn „gute“ von „schlechten“ Geflüchteten unterscheiden soll, die Verantwortung auf die „Experten“ abwälzen. Schöne Verantwortungsethik!

Nutzen Sie die Möglichkeiten der Weiterbildung in Ihrer Stadt!

Wir würden uns wünschen, dass sie sich mit eben diesen Fachleuten und der Fachliteratur zu diesem Thema auseinandersetzten, bevor sie weiterhin ‚unbeabsichtigt‘ zum rassistischen Diskurs beitragen.

Demokratie bedeutet nicht jeden Populismus zu veröffentlichen und verstärken zu müssen, sondern Menschen zu ihrer eigenen gut begründetet Meinung zu befähigen. Ein Weg dahin ist Bildung. Darum bitten wir Sie: Nehmen sie selbst das Angebot wahr, und bilden Sie sich weiter in den Themenfeldern Krieg, Frieden, Rassismus und Fremdheit. Auch an der Universität Tübingen gibt es Menschen, die sich genau mit diesen Themen beschäftigen und deren Forschung nicht als „Torheit“ beiseite geschoben werden kann. Es braucht Kontextualisierung um die jetzige Situation und die Menschen, die sie als „Araber“ betiteln, wirklich verstehen zu können. Wir laden sie herzlich zu Seminaren, Lesekreisen und Diskussionen ein, die dieses Feld wissenschaftlich bearbeiten.

Mit freundlichen Grüßen

Ihre Fachschaftenvollversammlung
an der Universität Tübingen


Der offene Brief ging diversen Medien zu. Hier gibt’s den offenen Brief in Druckform als PDF.